Neuer Trend „theoretische Kulinarik“ ?

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Es war meine Frau Mutter die neulich am Telefon zu mir sagte: „Kocht eigentlich noch jemand? Ich habe das Gefühl alle Welt redet jetzt nur noch darüber.“

Wenn man da mal ein bisschen drauf rumdenkt, liegt diese Entwicklung tatsächlich auf der Hand. Wieviel überhaupt noch/wieder selbst gekocht wird, und was genau, ist schwer zu fassen. Fakt ist: die Freude an der „theoretischen Kulinarik”, am „passiven Genuss“ nimmt immer mehr zu.

Das beginnt im Fernsehen, wo es von Hotelinspektoren, Restauranttestern, Kochwettbewerben und Kochshows nur so wimmelt, allen voran die VOX Programmgestalter, die derzeit ihr Vorabendprogramm mit unfassbaren vier Kochformaten in Folge bestreiten (Wissenshunger, Kochchampion, Das perfekte Dinner, Unter Volldampf). Bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass TV-Kochformate eigentlich vor zwei Jahren schon gesamtmedial zu Grabe getragen wurden, zuviel, zu platt, zu lang schon, war der Tenor.

Auch im Zeitschriftenbereich nimmt der Anteil lesbarer und lesenswerter Kulinarik deutlich zu, während die klassischen Rezepthefte Leser verlieren. Ein Beispiel ist das Foodmagazin Effilee das, im vergangenen Jahr gestartet, seinen Schwerpunkt ganz deutlich auf Reportagen und lange Lesestücke setzt und weniger auf Rezepturen. Kaum eine Tages- und Wochen(end)zeitung erscheint noch ohne „Kochteil“, vor einigen Jahren war der Herr Siebeck in der „Zeit“ noch mutterseelenallein in der Feuilleton-Küche. Explosiv habe ich den Anstieg von Sonderheften zum Thema Kochen und Kulinarik wahrgenommen, allein in den letzten Monaten erschienen dazu Hefte von mare, Geolino, brandeins und zuletzt der „ZEIT Wissen Ratgeber Ernährung“. Hier wird Zweierlei bedient: eine Nachfrage und die Werbewirtschaft die Interesse daran hat im Rahmen kulinarischer Inhalte ihre Produkte zu platzieren, beides bedingt sich.

Auch online ist die Küche heiß: immer mehr wirtschaftsgebundene Kochportale und Foren gibt es, wo emsig über Essen diskutiert wird, reger Austausch von Meinungen und Kochrezepten inbegriffen. Die Deutschen Foodblogger schreiben, scheinbar unberührt von den überall zurück gehenden Blogleserzahlen und dem Anstieg der Twitter-Kurznachrichten, weiterhin fleissig, ausführlich und viel gelesen über ihr Lieblingsthema.

Wie kommts? Homecooking in der Wirtschaftskrise? Das berühmte, seit den Neunzigern redundant beschworene „Cocooning“? Oder ist das einfach Träumerei, so wie man sich Reisereportagen ansieht und Architekturzeitschriften durchblättert?

Erfreulich ist diese Entwicklung allemal: denn nur im Gespräch über Genuss, und aus der Beschäftigung mit der eigenen Ernährung heraus, entsteht ein waches Bewusstsein fürs Thema und, da bin ich Optimist, auch ordentlich Appetit auf die eigene Küchenshow.

  1. Es scheint dieser Trend des “über’s Kochen schreiben” tatsächlich zu geben. Erfreulicherweise wird allerdings in der deutschsprachigen Foodbloggerszene weiterhin viel gekocht (und dann natürlich auch darüber geschrieben). Insofern sehen wir zur Zeit eine gesunde Mischung aus theoretischer und praktischer Kulinarik.

  2. Ich glaube, es gab nie etwas anderes als “theoretische Kulinarik”. Vor ein paar Jahren habe ich aus einer Laune heraus mal ein paar Alfredissimo-Rezepte nachgekocht, war überrascht, wie gut die waren und habe davon im erweiterten Freundeskreis erzählt. Denn allermeisten (kochenden und nicht-kochenden) Freunden fiel die Kinnlade herunter: “Was? Das hast du nachgekocht? Aber warum denn nur?”
    Das man das nachkocht, was einem im Fernsehen vorgekocht wird, ist wohl alles andere als selbstverständlich. Und wenn mir in diesem Zusammenhang Clemens Wilmenrod einfällt: Eigentlich kann ich mir nicht vorstellen, dass allzu viele Menschen angefangen haben, Mandeln in die Erdbeeren zu drücken, als er dieses Rezept vorgestellt hat.
    Und, ja, ich lese wahnsinnig gern Kochbücher, ohne das Bedürfnis zu verspüren,sofort in die Küche zu eilen, um das nachzumachen. Für die ein oder andere Sache aus dem Kamasutram ist man ja auch nicht mehr gelenkig genug. Hätte ich jetzt beinahe geschrieben.

  3. mipi, das stimmt, die Foodblogger kochen sehr viel, ich staune manchmal auch über den Output, wenn ich alleine an Lamiacucina denke, diese Küche, diese Sorgfalt, was für eine Bereicherung!

    CLaudia, danke für den Link, sehr interessant, auch dass das Interview 2005 war und so heute noch Berechtigung hat.

    Chris, was für eine schöne Sichtweise. Beinahe hätte ich geschrieben, das die Kulinarik auf jeden Fall alltagstauglicher als das Kamasutram ist.

  4. Dass es mehr Zeitschriften gibt (und auch ein paar mehr Fernsehsendungen) die dieses Thema so beleuchten, hat glaube ich einen einfachen Grund: Es hat sich eine Zielgruppe herauskristallisiert, die es früher nicht so gab.

    In einer Welt in der es jeder TUI-Pauschalist nach Kho samui zieht oder jeder halbwegs Filminteressierte durch DVDs Goodfellas auf Englisch gucken kann und ein Toyota genauso üppig ausgestattet wird wie früher ein Benz, fällt es dem Einzelnen zunehmend schwerer sich von der Masse abzuheben.

    Was bleibt? Essen, Genießen und darüber reden als Zeichen der intellektuellen Fähigkeit ist en vogue. Waren früher ferne Ziele Globetrottern und Abenteurern vorbehalten, so sind es heut der geangelte Loup de mer oder Tahiti-Vanille oder noch extremer die “Ich-esse-nur-Bio-Mentalität” die “uns” von “denen” unterscheiden.

    Und es ist wirtschaftlich sinnvoll dieser Zielgruppe Lesestoff zu geben. Und dieser (sowie die TV-Formate) werden auch genutzt. Selbst bei sinkender Auflage hat “essen und trinken” an Anzeigenvolumen zugelegt. Es ist also nichts anderes als die treibende Kraft des Kapitalismus Supply and Demand, die diesen Trend befeuert.

    Doch ist es alles in allem ein Zustand den ich auch begrüße, denn nur durch das bewusste Erleben und Genießen werden wir einer Welt mit guter Nahrung und gesunden Menschen ein Stück näher kommen.

  5. Foodblogger scheinen tatsächlich einen gesellschaftliche Gegenbewegung darzustellen (keine Überraschung).
    Allerdings keine ich zwei Menschen, die von Fernsehköchen lernen (ich gucke die ja nicht): Sowohl meine Mutter als auch der Mitbewohner haben mir schon Zubereitungen serviert, die sie sich im Fernsehen abgeschaut haben.

  6. Kaltmamsell,Hurra ! Dass ich erst so alt werden musste um endlich Teil einer gesellschaftlichen Gegenbewegung zu werden! Meine frühen Versuche mit Hundehalsband und Kajalstift-umrankten Augen dürfen nämlich im nachhinein als gescheitert betrachtet werden. Jetzt aber!

    Heraus zum revolutionären Kochen!

  7. Lieber Herr Paulsen,

    da kann ich in vielen Punkten nur zustimmen. Und einen Realitätsbeweis liefern:

    Als ich noch angestellt in der Werbung arbeitete, eilte mir als eifriger Geburtstagskuchenbäckerin gerne der Ruf der “Hausfrau & Köchin” voraus. Leicht spöttisch, versteht sich. Man unterhielt sich allenfalls über schicke Restaurants, aber übers Kochen? Sowas von uncool. Der Chef einer befreundeten Agentur entsprach dabei allen nur denkbaren Klischees aus 39,90, und ja, irgendwann hatte auch er seinen Porsche und bat seine Assistentin um terminliche Koordination für den Platzreifekurs und Segelschein. Irgendwann hab ich dann gekündigt und die ganzen Geschichten fast vergessen, als ich eine Mail dieses Menschen in meinem Account vorfand, die neben Blabla die Frage enthielt, ob ich ihm einen Kochkurs empfehlen kann. Das müsse man ja jetzt können und ich als Foodbloggerin hätte da bestimmt Ahnung…
    Dabei tröstet mich ein Gedanke: Jemand dieses Kalibers wird nie wirklich Spaß am Kochen, am Porsche oder Segeln haben, das drüber reden wird immer wichtiger sein.

    Ein sehr entlarvender Satz in diesem Kontext: “Was, Du kochst ganz für Dich allein?” Wer nicht versteht, dass Kochen – auch nur für sich ganz allein – Spaß, Genuß und Wertschätzung sind, dem ist nur schwer zu helfen 😉

  8. Wunderbar, Nicky, Deine Erzählung macht es mal wieder deutlich: im Leben wie in der Küche ist jeder seines eigenen Glückes Schmied! Und Foodblogger sind höchstwahrscheinlich sehr glückliche Schmiede!

  9. Als Sie Hundehalsband trugen, Sie subversives Element Paulsen, ging ich brav zu Pfadfindertreffen und in den Jugendchor. Nur eine Revolution, die gut schmeckt, kann Naturspießer wie mich locken.

  10. Da sehen wir es, Kaltmamsell, die Kraft der kulinarischen Revolution führt spät auch noch vermeintlich Gegensätzliches zusammen (Pfadfinder und Jugenchor sind ja irgenwie auch Punk):-)

  11. Ich koche, seit ich einen Löffel in der Hand halten kann ;-). Und ich kenn es aus meiner famiglia nicht anders. Aber natürlich hab auch ich Freunde/Bekannte, die nicht mal ein Spiegelei in die Pfanne hauen können, aber Sonntags schön brav “PromiDinner” gucken. Wobei grade diese Sendung sehr wenig guten Output bietet, ich staune manchmal, wie schlecht so B-Promis über Kochen Bescheid wissen, sich aber dennoch entblöden mitzumachen. Egal… was wollte ich eigentlich sagen, achja, ja natürlich ist Kochen sehr “in”, das zeigen schon die vielen Kochkurse und immer gibts noch Steigerungen mit Molekularküche und Co. Aber das einfache, ehrliche und schmackhafte mit Leidenschaft wird überleben, und diesen Trend auch 🙂

  12. Danke für den interessanten Eintrag, hab viel darüber gedacht… (bin selber sowohl “Theoretiker” als auch “Praktiker”). Aber die meisten TV-Kochsendungen haben selbst mit Theorie des Kochens nichts zu tun, sie sind ja nur Shows.

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