"Auf Sie mit Idyll!" Wiglaf Droste und die Bionade-Biedermeier. Szenen einer Lesung.

Neulich bei Tisch mit Gästen, es gab in Rotwein geschmorte Schweinebäckchen mit Buttermilch-Kartoffelstampf und scharfem Senfkohl, diskutierten wir den Trend zum Fleischverzicht, als uns Freund Merlix mit dem schönen Begriff des Bionade-Biedermeiers erfreute. Der Bionade-Biedermeier ist augenzwinkernd-polemisches Synoym für jene, in die besten Jahre gekommene Generation Golf, Kohls sorglose Kinder, deren politischer Aktivismus stets im überschaubaren Rahmen blieb und heute bestenfalls noch in der Küche und bei der Auswahl des Stromanbieters seinen Ausdruck findet.

Alternative Gesinnung als Lifestyle. Alnatura Dinkelkekse mümmelnd, unterstützt der Bionade-Biedermeier den gesellschaftlichen Wandel überwiegend durch den Kauf biologisch-ökologisch korrekter Milch. Die persönliche Rauchentwöhnung gilt als gelebter Umweltschutz, wie auch das Drücken des „Gefällt mir“ Buttons unter einer politisch gefärbten Kampagne auf Facebook als revolutionärer Akt der politischen Mitgestaltung gewertet wird. In ganz wütenden Stunden denkt der Bionade-Biedermeier intensiv über eine Mitgliedschaft bei Foodwatch nach.

Neustes Projekt: Rettung der Welt durch temporären Fleischverzicht („vielleicht Donnerstags?”), angeleitet durch Jonathan Safran Foers Buch Tiere essen. Ich gestehe, an dieser Stelle trommelt sich der Bionade-Biedermeier in mir selbst schon geraume Zeit auf die schmale Brust. Doch die Gegenseite schläft nicht!

Gestern Abend schickte die Hamburger Fleischerinnung eine wirklich scharfe Waffe zur Rettung des Wurstbrotes: der Autor, Satiriker und Kulinariker Wiglaf Droste konnte für eine Lesung in unser aller Lieblingsbuchhandlung Cohen & Dobernigg gewonnen werden. Droste, den man sich in der Regel live mit durchschnittlich 200-500 Menschen und zu Eintrittspreisen nicht unter 15 Euro teilen muss, gab dort im Kleinstkreis und für den Gegenwert zweier Gläser Wein ein Gastspiel, dazu kostenloses “Wurst-Catering“.

Buntes Volk hatte sich versammelt, Hamburger Gastronomen, Kulturbewegte und Porkcamp-Veteranen der revolutionären „Wurstgruppe Neuruppin 2010“ lauschten Meister Droste, der, schwer atmend, kurz vor knapp herbei eilte und redlich im Schweiß stehend seine Gäste begrüßte. Es sei ja nun mal eng hier heute und die Luft sehr schlecht, aber: „Alles ist schöner als ein Literaturhaus!“

Mit großem Tuch wurde die Denkerstirn trocken gelegt: „ich geb hier alles, Lesen bis zum Auslaufen!“ Und das tat er dann, aus dem hochvergnüglichen Buch WURST (DuMont Verlag) von 2006, jenem prächtigen Loblieder-Reigen auf die Wurst, den Droste zusammen mit Vincent Klink verfasste, begnadet komisch illustriert von Nikolaus Heidelbach. Das Buch gibt es auch als Taschenbuch, nichts, aber auch gar nichts spricht für den Erwerb, bitte besorgen sie sich eine Originalausgabe in rotem Feinleinen mit goldenem Prägedruck. Alles andere wird der Sache nicht gerecht.

Droste las auch aus seinem neuen Buch “Auf Sie mit Idyll!” sowie aus seiner Sprachkritik “Im Sparadies der Friseure”, beide in der Edition Tiamat erschienen. Aus der Zettelwirtschaft die sich aus des Dichters weicher Ledertasche auf den Lesetisch ergoss, fischte Droste unter anderem ein mehr als brillantes Jürgen Dollase-Bashing. Kein gutes Haar ließ er am kulinarisch eher wissenschaftlich-analytisch geprägten Großkritiker, der stets nur eine „Creme de Schwall“ serviere. Das kundige Publikum dankte es mit frenetischem, ja jauchzendem Applaus, endlich spricht das mal jemand aus, murmelte es im Rund, ein gefühlter Höhepunkt der Lesung.

Zwischendurch rechnete Droste ab: mit den Nichtrauchern („wie kann man sich mit etwas brüsten was man nicht tut, bzw. nicht kann?“), mit den Grünen, der Bild Zeitung (“ich habe mit eigenen Augen tote Fische gesehen, die es ablehnten, sich in Bild einwickeln zu lassen”) mit Alice Schwarzer, Dresden und Hannover. Droste im Titanic-Land.

Der unterhaltsamen Theorie mit zwei Zugaben folgte der praktische Teil. Zum Ende der Lesung trugen Michael Durst, Obermeister der Fleischerinnung Hamburg, und seine Gesellen eine drei Meter lange (!) Schnittchenplatte in die ausverkaufte Buchhandlung:

Liebevoll verzierte Canapés drängelten sich auf der imposanten Wurst-Sänfte, dick belegt mit Wurstspezialitäten von der Lütticher Leberpaste bis zum Prager Schinken.
Chapeau und Dank, Hamburger Fleischerinnung, so lobe ich mir den Küchenkultur-Kampf. Der Donnerstag bleibt natürlich fleischfrei.
¡Viva la revolución!

Wiglaf Droste live
Auf Sie mit Idyll! Tour

Mi. 29.09.10 20:00 Rheinsberg, Schlosstheater (mit Uschi Brüning & Ernst-Ludwig Petrowsky)
Do. 30.09.10 20:30 Dresden, Bärenzwinger
Mo. 04.10.10 21:00 Frankfurt, Klabunt
Di. 05.10.10 20:00 Leipzig, Centraltheater Rangfoyer (zu Gast bei Guillaume Paoli „Prüfgesellschaft für Sinn und Zweck“, Thema: „Das deutsche Ding – 20 Jahre Einheitsbrei“)
Do. 07.10.10 20:00 Jena, Volksbad
Fr. 08.10.10 20:00 Magdeburg, Moritzhof (mit F.W. Bernstein)
Sa. 09.10.10 20:00 Leipzig, Horns Erben (mit F.W. Bernstein)
So. 10.10.10 20:00 Halle, Objekt 5 (mit F.W. Bernstein)
Di. 12.10.10 20:00 CH-Basel, Parterre
Mi. 13.10.10 20:30 CH-Thun, Cafe Bar Mokka
Do. 14.10.10 20:00 CH-Zürich, Kaufleuten
Fr. 15.10.10 20:00 A-Dornbirn, Spielboden
Sa. 16.10.10 20:30 Konstanz, Neuwerk
So. 24.10.10 20:00 Tübingen, Sudhaus (mit Vincent Klink & Patrick Bebelaar)
Mo. 25.10.10 20:00 Ulm, Roxy (mit Vincent Klink und Patrick Bebelaar)
Di. 26.10.10 20:30 Stuttgart, Schocken
Fr. 29.10.10 20:00 Nienburg, Kulturwerk
Sa. 30.10.10 20:30 Köln, Comedia
So. 31.10.10 20:00 Duisburg, Hundertmeister
Sa. 13.11.10 20:00 Leipzig, Horns Erben (mit Horst Tomayer)
So. 14.11.10 20:00 Halle, Objekt 5 (mit Horst Tomayer)
Di. 16.11.10 20:00 Lippstadt, Stadttheater
Mi. 17.11.10 20:00 Hamm, Kulturwerkstatt (Literarischer Herbst)
Do. 18.11.10 20:00 Bochum, Bahnhof Langendreer
So. 21.11.10 20:30 Leipzig, Schaubühne Lindenfels (als Gast bei Vincent Klink & Patrick Bebelaar)
Mi. 24.11.10 20:00 Düsseldorf, Zakk
Do. 25.11.10 20:00 Dülmen, Aula des Schulzentrums (mit Fritz Eckenga)
Fr. 26.11.10 20:00 Dortmund, Fritz Henßler Haus (mit Fritz Eckenga)
Sa. 27.11.10 20:00 Hiddenhausen, Aula Olaf-Palme-Gesamtschule (mit Fritz Eckenga)
Di. 30.11.10 20:00 Augsburg, Abraxas (mit Danny Dziuk)
Mi. 01.12.10 20:00 München, Laab (mit Danny Dziuk)
Fr. 03.12.10 20:00 Bamberg, Odeon (mit Danny Dziuk)
Di. 07.12.10 19:30 Menden, Wilhelmshöhe (zu Gast bei Christine Westermann)
Mi. 08.12.10 20:00 Gütersloh, Die Weberei
Sa. 11.12.10 20:00 Leipzig, Horns Erben (mit Stefan Schwarz)
So. 12.12.10 20:00 Halle, Objekt 5 (mit Stefan Schwarz)
Fr. 07.01.11 20:00 Bielefeld, Theaterlabor
Sa. 08.01.11 20:00 Bremen, Lagerhaus
Mo. 10.01.11 20:00 Berlin, Eiszeit Kino (Der Malteser Falke – zum 50. Todestag von Dashiell Hammett)
Mi. 12.01.11 20:00 Kiel, Studio Kino
Do. 13.01.11 20:00 Hamburg, Uebel & Gefährlich
Di. 18.01.11 20:00 Frankfurt, Mousonturm
Fr. 11.02.11 19:30 Zittau, Gerhart-Hauptmann-Theater
Do. 07.04.11 20:00 Dresden, Scheune
So. 17.04.11 20:00 Chemnitz, Theater