Cocktailian – der neue Barbuch Klassiker ist da

Erst durfte ich nicht, dann hatte ich erstmal kein Geld dafür. Als ich Ende der Achtziger Jahre erstmals hätte eine Bar besuchen können, hatte ich keine Lust mehr. Bars waren damals Grabeskammern für spinnenbewebte Herrenclubs oder farbenfrohe Rummelbuden der Popper-Generation mit Schmalzlocken-Schnitt (im Kino lief Cocktail mit Tom Cruise). Der Weg zur Bar-Kultur sollte ein langer Weg für mich werden.

In den Neunziger Jahren begann, ausgehend von London und New York eine Bar-Renaissance, in Deutschland gab Charles Schumann der Bar ihre Würde wieder. Ich süffelte mich durch die Weinkeller der Welt und sah erst zur Jahrtausendwende das Licht dessen, was man mit Fug und Recht eine Bar-Revolution nennen darf.

Erstmals erfuhr ich, dass Kantenlänge, Beschaffenheit und Kerntemperatur eines Eiswürfels essentiell für das Gelingen eines Cocktails sind. Dass es Bars gibt, die mehrere Eiswürfel-Arten, mehr als eine Gin-Sorte und mehr als ein Dutzend verschiedene Bitters im Programm haben. Und alle Säfte saisonal frisch gepresst. Dafür keine Schirmchen. Und keine Cocktailkirschen. Kein Cuba libre. Dafür Drinks des Fin de siècle in Vollendung. Ich hörte von jungen Bartendern die mit Kräutern und Gewürzen experimentierten, in antiquarischen Bar-Büchern stöberten, Primärliteratur studierten- zum Wohle des Gastes.

Das Stückchen Besessenheit und Wahnsinn das da mitschwingt, kam mir bekannt vor. Aus der Küche. Es war diese offensichtliche Verwandtschaft zwischen den Genussdisziplinen Bartending und Kochen, die mich bis heute begeistert. Ich begriff erstmals, welch hohes kulinarisches Verständnis die Zubereitung eines Drinks erfordert. Begriffe wie Liquid Kitchen und Cuisine Style benennen wichtige Aspekte der modernen Barkultur. Bars sind heute unprätentiöse aber elegante Genussorte, hier legt man Wert auf Stil und Können-ohne eine große Nummer draus zu machen.

Die neue Bartender-Generation ist vernetzt und informiert. In Deutschland haben insbesondere die Macher von Mixology aus Berlin die Bar-Renaissance vorangetrieben und mitgestaltet. Seit acht Jahren gibt es das gleichnamige Bar-Magazin, das mit der aktuellen Ausgabe erstmals an den Kiosk geht. Die Bartender und Herausgeber Helmut Adam, Jens Hasenbein, Bastian Heuser und das Mixology-Redaktionsteam sind zudem Veranstalter des jährlichen Bar Convent Berlin (BCB), dem Symposium der Deutschen Barindustrie. Dort wurde Anfang der Woche erstmals Cocktailian-Das Handbuch der Bar vorgestellt, das jetzt im Tre Torri Verlag erschienen ist.

Das Buch erinnert nicht von ungefähr an eine Bibel, schwer, schwarz, Silberschnitt und schwarzes Buchband. Der Cocktailian hat auch sonst das Zeug zum Klassiker. Adam, Hasenbein, Heuser und die zahlreichen MitautorInnen liefern nicht weniger als DAS Buch zum neuen Bar-(Selbst-)Verständnis.

Die Autoren wissen, dass Verständnis mit Geschichte anfängt, folgerichtig beginnt auch Cocktailian mit einer rasanten Zeitreise durch die Geschichte der Mischgetränke, von den arabischen Alchemisten um 776 v. Ch. bis zu den Mixolologen des 21. Jarhunderts. Es folgen Gläserkunde, Barwerkzeug- und Technikkunde, eine interessante Anleitung zur Verkostung von Spirituosen und ausführliche Warenkunden. Die Idee des Foodpairing in der Bar ist faszinierend und wird erklärt, es gibt viele Rezepte für „Hausgemachtes“ wie Liköre, Espuma oder Sirup.

Herzstück des Buches ist natürlich die Sammlung der 230 Cocktailrezepte. Hier sind die Autoren einen ganz neuen Weg gegangen, haben die DNA der 13 populärsten Getränkekategorien analysiert und jeweils anhand eines Key-Cocktails verdeutlicht. Wer das System einmal verinnerlicht hat, ist in der Lage allein durch Variation von Basisspirituose, Zuckerquelle oder Zitrussaft selbstständig hunderte neuer Cocktails zu kreieren. Gigantisch.

Ganz persönlich haben mir die vielen, locker eingestreuten, klugen Essays zu Themen der Barkultur besonders gefallen, interessante, gut geschriebene Aufsätze über beispielsweise Prohibition, Barkultur der Achtziger, Tiki Ära, Urväter der Bartender. Jörg Meyers Ode an das Eis liest sich da so vergnüglich wie sein Blog, überhaupt sind die Gastautoren vom Feinsten! Der große Franz Brandl beispielsweise, Urgestein der deutschen Barszene und selbst Autor einiger Barbuch-Klassiker oder der Cocktail-Historiker und Literaturpofessor David Wondrich, um stellvertretend nur zwei Namen zu nennen. Sie machen den Cocktailian dann auch zum unterhaltsamen und bereichernden Lesebuch. Ganz ohne Fotos kommt der Cocktailian aus und das ist gut so, es unterstreicht die Zeitlosigkeit, die ein neuer Klassiker braucht, mit elegant unaufdringlicher Graphik und feinen Illustrationen.

Der Cocktailian ist wie die neue Barkultur selbst: elegant, aufgeräumt, selbstbewusst und konservativ nur im besten, im bewahrenden Sinne, dabei immer neugierig und kreativ.
Ein großes Buch.

Online im Buch blättern:

issuu.com/tretorri/docs/cocktailian

Interview mit den Autoren

“Cocktailian – Das Handbuch der Bar”
Tre Torri Verlag, Wiesbaden
ISBN 978-3-941641-41-9
520 Seiten
Preis: 39,90 Euro
Erhältlich ab 4. Oktober 2010 üerall wo es Bücher gibt und im Shop auf www.cocktailian.de

Weitere Beiträge
Die NutriCulinary Kochbuch-Bestenliste 2023