„Begegnung mit Gott“ – eine persönliche Erinnerung zum Tod von Paul Bocuse

Paul Bocuse ist gestorben, er starb am 20. Januar 2018 mit 91 Jahren, er wird unsterblich sein. Ihm zum Gedenken hier die kurze Erzählung „Begegnung mit Gott“ die 2009 in meinem ersten Kurzgeschichtenband Monsieur, der Hummer und ich erschien – und die den Meister als wunderbar freundlichen, nahbaren Menschen mit Witz beschreibt – so habe ich ihn immer gesehen, auch später, wieder aus der Ferne.

Begegnung mit Gott

Die betagte Hoteltreppe kündigte knurrend Großes an. Stöhnende Stiegen unter gewichtigen Schritten. Ich ließ meinen Zimmerschlüssel sinken. Langsam drehte ich mich um, der Boden vibrierte unter den roten Läufern, jetzt war ein Schnaufen zu hören, hinter der letzten Stufe tauchte ein bebendes Stückchen Weiß auf, das Weiß wuchs, wurde größer, länger, eine Kochmütze, darunter erschienen kleine, dunkle Augen unter dichten Brauen, ein seltsam vertrautes Gesicht. Ein imposanter Bauch drückte gegen die blauen Knöpfe einer ausladenden, stoffreichen Kochjacke, pfeifend pausierte der Riese auf der Gipfelschwelle, erholte sich kurz vom beschwerlichen Aufstieg und kam dann direkt auf mich zu.

Auf der Jackentasche der Kochuniform verriet ein geschwungener Schriftzug in den französischen Nationalfarben ihren Besitzer: Paul Bocuse. Die schmückende Inhaltsangabe wäre aber nicht nötig gewesen. Paul Bocuse sieht sich nämlich unglaublich ähnlich, stellte ich fest.
„Monsieur Bocuse“, sagte ich.
„Oui“, bestätigte Monsieur Bocuse.
Dann standen wir einander gegenüber. Nur so. Schweigend. Bocuse klapperte dynamisch mit seinem Schlüssel und blickte sehnsüchtig über mich hinweg zu seiner Zimmertür. Gerne hätte ich Herrn Bocuse vorbei gelassen. Ich konnte mich aber nicht bewegen. Plötzliche Gotteserscheinungen lähmen mich immer ein bisschen.

Die Gemeinschaft der Köche tut sich schwer mit ihren Göttern. Wie der Rest der Menschheit will man sich nicht so recht einigen. Zahlreich tummeln sich die weltlichen Gottheiten im kulinarischen Himmelreich, werden auserwählt und gestürzt, persönliche Vorlieben und Staatsangehörigkeiten prägen die oft fundamentalistische Gotteswahl, und nicht zuletzt der Mangel an Superlativen zur Beschreibung kulinarischer Höchstleistungen lässt Köche gern mal „Gott!“ und „göttlich!“ rufen, wenn’s Bäuchlein spannt und der letzte Kelch geleert ist. Paul Bocuse aber, und da ist man sich dann doch so ein bisschen einig, gebührt der Platz des Göttervaters. Ein Zeus der Küche, in Rotwein gebadet, mit Butter gesalbt, auf Trüffeln gebettet, da geht man gerne auf die Knie und schiebt die anderen Heiligenbildchen ein bisschen zur Seite.
„Sind Sie ein Kollege?“ Gott hakte nach.
„Oui“, antwortete ich und hatte damit mein gesamtes französisches Vokabular verschossen. Dann fiel mir auf, ich hatte mich gerade auf eine Stufe mit Gott gestellt. Panik ließ mich übergangslos von der Lähmung in die Totenstarre gleiten. Die Quittung für meine bodenlose Selbstüberschätzung lieferte Bocuse mit seiner nächsten Frage: „Wie heißen Sie?“ Ich überlegte kurz.
Ja, richtig, ich erinnerte mich. Stevan Paul. Mein Name war Stevan Paul. Auch auf Französisch. Was für eine Erleichterung! „Stevan Paul“, rief ich, etwas zu laut. Jetzt überlegte Bocuse. Von Stevan Paul hatte er noch nie gehört. Aber Paul, ja, Paul, so hieß er ja auch, er schüttelte mir die Hand, nannte mich lachend seinen Namensvetter und ich reagierte mit einem geschwätzigen „Oui!“ Dann schob er mich beiseite und verschwand in seinem Hotelzimmer. Ich wankte in das meine, wir waren Nachbarn.

Nachmittags auf der großen Weinprobe sah ich meinen Kollegen, Namensvetter und Zimmernachbarn wieder. Er hatte sich nicht umgezogen, oder er trug nie etwas anderes als die frisch gestärkte, scharf gebügelte Kochmontur. Viel zu früh hatte ich mich auf den Weg gemacht, vom Schlosshotel hinüber in die kühle Kelterhalle, einen beeindruckend großen Saal mit geschnitzter Holzdecke und schwerem Natursteinboden, mich an Kamerateams und Fotografen vorbeigequetscht und in der ersten Reihe Platz genommen. Langsam füllte sich der Saal mit Journalisten, Weinhändlern, Winzern und Fachpublikum, in andächtiger Stille und stiller Aufregung vereint.
Dann kamen sie, ein würdevolles Defilee kugelbäuchiger, französischer Götter in Kochjacken. Angeführt von Paul Bocuse schritten sie zur Tribüne, Pierre Wynants, Pierre Troisgros, Marc Meneau und Jean-Claude Bourgueil, alle mit Kochmützen gekrönt. Bocuse hatte die Größte. Tosender Applaus, auch ich klatschte wie wild. Beinahe wäre ich aufgestanden. Ich konnte mein Glück nicht fassen, die Veteranen der französischen Spitzengastronomie, die hochdekorierten Sterneträger nahmen Platz, direkt vor meiner Nase.
Die Weinprobe begann. Mehrere erstklassige Beerenauslesen aus Deutschland wurden verkostet, nach jedem Durchlauf nannten die Sterneköche ihren Favoriten und erzählten, welche Speisen sie sich dazu vorstellen könnten.

Zwei Stunden und vierzig Beerenauslesen später ließ die Aufmerksamkeit manches Beteiligten nach. Bocuse, der direkt vor mir auf der Tribüne saß, zeichnete, völlig in sich versunken, selig lächelnd, irgendetwas auf eine Serviette. Ich griff hinter mich, hob mein Jackett ein wenig an und zog mir mit ruhigen, unauffälligen Bewegungen das Hemd aus der Hose, dabei blickte ich so konzentriert wie möglich auf meine Verkostungsnotizen. So müsste es klappen. „Entschuldigen Sie bitte“, entschuldigte ich mich bei meiner Sitznachbarin, einer jungen, bildschönen Weinfachverkäuferin aus Idar-Oberstein, „ich muss mal kurz aufstehen, mir ist das Hemd …“.
„Geht schon“, lächelte sie und rückte ein wenig ab, ich befreite mich aus meinem Stuhl, stopfte umständlich das Hemd wieder an seinen Platz, dabei beugte ich mich sehr, sehr weit nach vorne. Ja, jetzt konnte ich einen Blick auf die von Paul Bocuse gestaltete Serviette werfen. Es handelte sich, recht ordentlich getroffen und gut zu erkennen, um ein Porträt der jungen, bildschönen Weinfachverkäuferin aus Idar-Oberstein. An Kleidung hatte Bocuse gespart, nackt räkelte sich meine Sitznachbarin auf der Serviette, dafür hatte der Künstler ihr eine geradezu verschwenderische Brustvergrößerung spendiert. „Geht’s?“, fragte mich die unwissentlich Porträtierte, nachdem ich nun doch schon eine ganze Weile über den Tisch gebeugt in der Luft gehangen hatte. „Doch, ja, Sie sind sehr schön“, antwortete ich, und fügte noch schnell hinzu, „die Weine.“

Der letzte Durchgang und damit der Höhepunkt der Weinprobe nahte, freundliche Winzer hatten für diese Veranstaltung die letzten Flaschen eines überragenden Jahrgangs Beerenauslese geöffnet. Ein Geschenk. Es wurde geschnüffelt und gesüffelt, die Götter lobpriesen zu Recht die edeln Tropfen. Dann meldete sich Bocuse zu Wort.
Der Dolmetscher übersetzte erstmal nicht. Er suchte nach Worten. Die Menschen im Saal, die der französischen Sprache mächtig waren, saßen bereits aufrecht angenagelt auf ihren Sitzen. Hatten sie richtig gehört?
Der Dolmetscher erinnerte sich dann doch noch seiner Aufgabe und übersetzte mit Leidensmiene die Beurteilung des Herrn Bocuse: „Herr Bocuse sagt, er habe gerade alle vier Weine in ein Glas gegossen, so vermischt seien sie durchaus trinkbar, und er empfehle den Winzern, das auch mit den restlichen Flaschen zu tun.“
Irgendwo fiel eine Stecknadel zu Boden.
„Une plaisanterie!“ Ein Scherz, polterte Bocuse in die Stille.

Nur eine Stunde später traf sich die beerenauslesebeschwingte Gesellschaft wieder zum Festessen im großen Saal. Im Rund waren sechs Tische für je acht Personen aufgestellt, und in der Mitte des Saales, umgeben von einer fünf Meter breiten Bannmeile, der Table d´honneur, der Platz, an dem die Götter speisten. Von allen Plätzen aus war eine gute Sicht auf den Ehrentisch geboten, ein bisschen wie in Hagenbecks Tierpark. Ganz ohne Zäune und Gitter, aber mit einem räumlich großzügigem Sicherheitsabstand, konnte ich während des Essens die höchst seltene Spezies des Deus culinae gallicus stellis ornatus bei der Nahrungsaufnahme bestaunen. Ich wollte herausfinden, wie die Sterneköche das Essen beurteilten, versuchte, in ihren Gesichtern zu lesen, ob es ihnen schmecke.
Plötzlich gab es nichts mehr zu lesen. Gegen 23 Uhr fiel Bocuse der Kopf auf die Brust, er ruhte sanft auf dem soeben entstandenen Doppelkinn, das Dessert hatte er nicht angerührt. Er schlief, und der Sandmann schien Amok zu laufen am Table d´honneur. Der Reihe nach entschliefen: Pierre Troisgros, gefolgt von Monsieur Wynants. Bocuse und Troisgros lieferten zudem ein lautes Duett sägender Tafelmusik. Monsieur Meneau kämpfte tapfer gegen den Schlaf, Jean-Claude Bourgueil war wach und bewarf seine schlafenden Kollegen belustigt mit Baguette-Krumen. Keiner der Gäste im Saal ließ sich etwas anmerken, der Rauchsalon war allerdings schnell überfüllt, von dort war befreites Lachen zu vernehmen.
Die Götter erwachten, als der Kaffee serviert wurde, winkten ab und verschwanden auf ihre Zimmer. Gegen drei Uhr in der Nacht kroch auch ich in mein Schlafgemach. Durch die Wand konnte ich meinen berühmten Zimmernachbarn noch lange bei umfangreichen Laubsägearbeiten belauschen.