Frankfurter Buchmesse-Rückblick (2): die härtestes Lesung der Welt, Em-eukal und Jägermeister, Tim Mälzer, Caramelized App und lesen nach Harry Rowohlt

Schlaraffenland-Lesung im Lesezelt der Frankfurter Buchmesse

Samstag

Wenn ich über die Ränder meiner Naselöcher streiche, fühlt es sich an als streichelte ich ein sehr altes Reptil. Den Morgenkaffee vor mir kann ich sehen, riechen tue ich ihn nicht mehr. „Gutkrrrschschrren Morgrrreeiiiöööch!“, grüße ich meine Gastfamilie am Frühstückstisch, der Rest ist heißes Röcheln. Schade nur, dass ich heute eine Lesung auf der Buchmesse habe, und morgen auch und nächste Woche gehe ich auf Lesereise. Vielleicht ja auch nicht, denke ich und Panik kommt auf.

Gemeinsam mit der mir verbliebenen Reststimme überzeuge ich eine Apothekerin im schönen Rodgau, mir jetzt das wirklich harte Zeug zu geben, Erkältungsmedizin die an kanadischen Holzfällern ausprobiert wurde! Nur zögerlich lässt die Dame das Döschen mit den homöopathischen Kügelchen sinken und greift tief in die Schublade.

Knisternd löst sich daraufhin während des Vormittages so ziemlich alles in meinem Kopf auf, dann ist es 15.30 Uhr, ich habe jetzt eine halbe Stunde auf der härtesten Lesebühne der Welt: der Leseinsel der jungen Verlage in Halle 4.1. Sie können sich das so vorstellen: sie lesen im Auge eines Orkans an Zwischen- Neben- und Störgeräuschen, im Strom von drängelnden Tütensammlern und pubertierenden Manga-Fans. Wenn Sie laut genug lesen, bleiben manchmal auch Leute stehen, machmal setzten sich einige sogar kurz hin! Dabei sprechen sie als Autor in ein winziges Mikro das an winzige Miniboxen angeschlossen ist, aus denen durchaus ein leises Knacken und Brummen zu hören ist, wenn man ganz nah ran geht. Lauter machen geht nicht, die umstehenden Standbesitzer bekämen nervöse Zustände, denn hier lesen tagelang hunderte von AutorInnen, oft im 30 Minuten Takt,takt,takt, takt.

Warum man sich das antut? Weil es eine tolle Sache ist, sein Buch auf der Frankfurter Buchmesse vorstellen zu dürfen und weil man hier ganz eventuell Menschen erreicht, denen man bislang völlig unbekannt war. Ein Publikum! Potentielle LeserInnen! Die OrganisatorInnen der Leseinsel sind bitte nimmermüde zu preisen!

(v.l.n.r.:Autor Paul, Grippaler Infekt, Verleger Beskos)

Ich nehme also Platz, mein Verleger Daniel Beskos stellt Buch und Autor vor und ich lese eine Knüller-Storie aus „Schlaraffenland“. Also. Eigentlich ist das eine Knüller-Storie. Live-erprobt. Funktioniert immer. Hier so mittel. Ich höre nichts. Ich glaube sehr lange, dass auch das Publikum nichts hört, werde lauter, es krächzt unschön aus mir heraus, Schweiß sammelt sich im Nacken, Rotz in der Nase, die Stimme wird brüchiger, ich lese tonloser, um mich bis zum Ende zu retten. Erlösendes Klatschen.

Den restlichen Messetag experimentiere ich mit diversen Erkältungsmitteln in Kombination mit Kaffee und Cola (wussten Sie, dass wenn Sie ein Em-eukal Hustenbombon lutschen und dazu Cola trinken, das Ganze total nach Jägermeister-Kräuterlikör schmeckt? Verblüffend!), denn allerspätestens morgen sollte ich bei Stimme sein, denn dann lese ich im Lesezelt der Buchmesse, einem alten Zirkuszelt von 1908 und da passen richtig Leute rein und ich lesen nach dem großen Harry Rowohlt.

Tim Mälzer, Gourmet Gallery

Jetzt aber erstmal schnell noch zu Tim Mälzer, der oben in der Gourmet Gallery sein neues Kochbuch „Greenbox“ vorstellt, an dem ich (und das ist hier nachzulesen) nicht ganz unbeteiligt war. Der Andrang vor der Show-Bühne ist gewaltig, Tim ist in Hochform und kocht die Bolognese aus fermentierten Champignons, die Menschen freuts und es schmeckt und später steht das Publikum in Zehnerreihen vor dem Signiertisch.

Mir ist ein bisschen wehmütig, die Produktion des Buches war eine tolle Zeit, ich fühle mich sehr verbunden und das wars jetzt, jetzt ist das Buch in der Welt, es ist ein großartiges Buch. Tim nennt immer (auch bei der Präsentation am nächste Tag) Ross und Reiter, nimmermüde nennt er Namen, beton die Teamarbeit und genau das war es und alle haben ihr Bestes gegeben, die Küche, der Fotograf, die Assistenten, die Graphik, die Illustratorin, die Buchgestalter. Schaun sie mal rein!

Zuhause, so wurde mir angekündigt, gäbe es heute „Wurst und Käse, so ein bisschen italienisch, mit Brot“. Die Herbergseltern neigen zur Untertreibung, Frau Reichenbach hat ganz groß aufgekocht: als erstes gibt es einen Feldsalat, würzig mariniert und darauf pfannenfrisch gebratene Austernpilzstreife, die mit Sojasauce parfümiert wurden.Es folgt eine cremig-schaumige Basilikum-Rahmsuppe mit abgezogenen (!) Tomatenvierteln und Frischkäse, dann erst kommen „Wurst und Käse“: feinster Parmaschinken, hauchdünn geschnitten, der beste Coppa den ich je aß, eine Fenchelsalami die im Mund schmilzt, dazu Bressaola mit Parmesan und Gorgonzola mit Mascarpone. Von einem riesigen Laib wird großflaumiges Bauernbrot geschnitten, zum stippen in die hausgemachte Tomatensauce, die hier heiß dazu serviert wird. Eine großartige Kombination! Dazu gibt’s feinen Rotwein und ein guter Gott hat spät ein Einsehen mit mir und lässt mich wieder schmecken.

Sonntag

Der große Tag, Lesung im Lesezelt, darauf habe ich mich gefreut und ja- ich bin bei Stimme! Den Vormittag widme ich dem Kochbuch: erstmals schlendere ich in Ruhe durch die bescheidene Ausstellung in der Gourmet-Gallery, besuche alle Kochbuchverlag an den jeweiligen Ständen. Ein Highlight ist, wie jedes Jahr der Besuch der Gemeinschaftsausstellung von Gourmand World Cook Book Awards und der Paris Cook Book Fair, mit den besten und schönsten Kochbüchern aus aller Welt.

Ein prächtiger Bildband über das Jagen und Zubereiten von Rentieren findet sich hier ebenso, wie Kochgeheimnisse aus Armenien und die neue vegetarische Küche aus Hintertupfingen. Ein Paradies, eine kulinarische Weltreise auf wenigen Regalmetern und ich frage mich, warum man diesen wunderbaren Stand erneut in Halle 5 verbannt hat, nur mit Mühe zu finden zwischen „internationalen Buchverlagen“. Die Gourmand World Cook Book Awards gehört auf jeden Fall in die Gourmet Gallery, das würde großen Sinn und die Gourmet Gallery noch attraktiver machen. (die Gefahr ist allerdings groß, dass dort dann deutsche Kochbuchverlage ins Grübeln kommen könnten:-))

Ins Grübeln gekommen ist auch John Grøtting den ich Mittags am Stand von Caramelized besuche. John und sein Team haben nachgedacht über Apps und sie sind jetzt dabei ihre Vision einer App für alle Kochbücher zu verwirklichen, „ein zentraler Ort für intelligente Kochbücher und Rezepte“. Liebevoll digitalisieren sie Kochbücher zu Smart Cookbooks, dabei bringt jedes Buch andere Herausforderungen und wird sehr individuell zur App in der App.

Gemeinsam ist allen Kochbüchern die sich auf der Caramelized App finden das Suchverzeichnis und grundlegende Technikfeatures wie die in den Rezeptexten integrierte Stoppuhr-Funktion. Es ist möglich einzelne Rezepte aus den Kochbüchern auf der Caramelized App zu kaufen und zum kleinen Preis auszuprobieren, nach einer gewissen Anzahl gekaufter Rezepte wird man automatisch Besitzer des gesamten Kochbuches. Bislang erhältlich fürs iPad, auch für andere Smartphone-Systeme und Tablets soll es demnächst eine Version geben. Hier der Film zur Idee:

Der Vormittag verfliegt, bald ist es Zeit fürs Lesezelt, dicht gedrängt sitzen die Menschen auf den Stühlen und in den hölzernen Logen des alten Zirkus und warten auf Harry Rowohlt. Der kommt und grantelt erstmal ein bisschen grantelig mit der freundlichen Moderatorin („Ich lasse sie dann jetzt mal alleine, Herr Rowohlt?“ „Sehr gute Idee!“) um dann aus dem Stand eine charmante Kurt Vonnegut-Lesung von exakt 20 Minuten hinzudonnern, mit verschiedenen Stimmen und trotz Erkältung, Profi eben, es treibt mir die Lachtränen in die Augen und ich möchte mich Verbeugen vor diesem Mann.

Ich hatte ja so ein bisschen gehofft, dem Harry Rowohlt sein Publikum abzugreifen, doch als wir die Plätze tauschen strömen auch die Zeltbesucher dem Graubart hinterher zum nachbarschaftlich gelegenen Signierzelt. Weils aber so entsetzlich regnet, füllt sich das Zelt genauso schnell wieder, wie das Wasserglas auf dem Lestisch vor mir, ich blicke ins schöne Rund und fühle mich schlagartig wohl.

Die Lesung ist ein Vergnügen, das Publikum ist von der ersten Minute an dabei, es wird viel gelacht, die Stimme hält. Das sich anschließende Gespräch läuft auch prima, noch einmal sehe ich mich im Zirkus um, Applaus, dann werde auch ich zum Signierzelt geführt- die Rowohltsche Völkerwanderung setzt natürlich nicht ein, macht aber nichts, schön wars, in diesem zauberhaften Zelt lesen zu können, vor einem freundlichen Publikum. Danke auch an das tolle Lesezelt-Team, an die Gästebegeleitung und den Ton.

Applaus brandet auch durch die Messehallen, als gegen 17.30 Uhr ein Gong das Ende der Frankfurter Buchmesse 2012 einläutet, Bücher werden getauscht oder eingepackt, Tapeten werden runtergerissen, Regale auseinandergebaut, Armeen muskulöser Handwerker tauchen aus dem Nichts auf, Entschlossenheit im Blick und Teppichmesser in den Händen.

Morgen geht es für mich weiter nach Köln (16.10.), dann Mainz (17.10.) und Hamburg (19.10.), die Woche drauf freue ich mich auf München (25.10.), alle Termine der Lesereisen im Herbst und Winter finden sich tagesaktuell auf mairisch.de. Die Stimme hält. Darauf noch ein Em-eukal!

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