Sind wir nicht alle Andersesser? Kleines Plädoyer für mehr kulinarische Weitsicht

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Der Vegan-Vegetarische – Medienhype und die Diskussion um vegan-vegetarische Ernährung ist an einem Punkt angekommen, an der man prima mal einen Punkt machen könnte, machen sollte, ist doch wahr, es nervt. Da entscheiden Menschen sich fürderhin ohne jegliches tierisches Gedöns zu ernähren, andere empfinden das als Einschränkung und lassen alles so, oder werden Vegetarier. Oder Flexitarier, die lassen auch alles so, nur weniger und irgendwie anders. Das ist prima. Bitte alle weiter machen, guten Appetit.

Stattdessen wird diskutiert, verglichen, gedisst, appeliert, gestritten und missioniert. Schlimm. Die Ernährungspsychose hat auch bereits einen (von der Schulmedizin noch nicht anerkannten) Namen: Orthorexia Nervosa, die Obsession sich besonders gesund und “korrekt” zu ernähren, geht leider auch gerne mit selbstreferenziellem Missonarismus einher – Ernährung als Heilsversprechen, fleischlos, glutenfrei, lactosefrei, fettfrei.

Dabei ist Ernährung halt doch was sehr persönliches: denn wir lassen nur wenig an uns ran und da gilt es scheinbar das, was wir in uns rein lassen in besonderem Maße auch vor uns und anderen zu legitimieren. Dazu besteht kein Grund. Die persönliche Ernährung ist abhängig von vielen sehr persönlichen Faktoren: Geschmack zum Beispiel. Einkommen. Lebensumstände. Religionszugehörigkeit. Moral. Allergien. Um nur mal ein paar der Mitentscheider zu nennen. Alles ziemlich persönlich und eben nicht geeignet politisiert zu werden, weil wir dann immer nur über den eigenen Standpunkt diskutieren, uns selbstreferenziell um uns und Andersessende drehen, statt anzufangen wirklich nachzudenken und dann gemeinsam (!) über unsere eigenen Tellerränder hinaus zu schauen.

Das absolut nervtötende an der reinen „Tiere essen“-Diskussion: sie kommt niemals zu einem Ergebnis. Jeder These folgt die Gegenthese, immer alles hieb und stichfest und von herbeizitierten Experten unterschrieben. Neustes Kriegsgebiet: die Unterscheidung zwischen fühlenden Lebewesen und nichtfühlenden Lebewesen. Ja, hömma! Fakt ist: die Vegan-Vegetarisch-Mir doch am liebsten Wurscht-Debatte, die bislang zu nix führt außer zu Ungemach in größeren und kleineren Zusammenhängen, lenkt herrlich ab von lobbygesteuerter Politik zugunsten der Lebensmittelindustrie oder komplexeren Themen wie beispielsweise dem Freihandelsabkommen, dass geeignet ist, die schönen neuen Utopie von „regional“ und „nachhaltig“ nachhaltig zu pulverisieren. Derweil wundert sich „der Verbraucher“ gemeinsam mit der Presse dreieinhalb Tage lang warum in seiner Schokolade für 0,85 Cent keine echte Vanille drin ist und entzieht in Folge vorsichtshalber schon mal Stiftung Warentest das Vertrauen. Und im Zug des Vegan-Trends zündet die gleiche Industrie ein Feuerwerk an einträglichen „Food-Innovationen“, in Mehrzahl Mehrkomponenten-Ersatzstoff-Gedöns, dass die selbstgewählten Ernährungs-Lücken mit Surrogaten füllen soll.

Auf der Strecke bleibt „unsere Nahrung“. Naturprodukte und Lebensmittel von denen wir wissen was in ihnen steckt, die sorgfältig produziert und deren Herstellung gerecht entlohnt wurden. Landwirte die von ihrer Arbeit wieder leben können. Brot, Obst und Gemüse das wieder schmeckt. Fleisch, das wieder etwas Besonderes ist. Lebensmittel die nicht produziert werden, um weggeworfen zu werden.

Das sind doch Ziele die uns alle, einig, interessieren dürften. Investieren wir doch einen Teil unserer Zeit, unserer Gedanken und unser Stimme in diese Problematiken.Treffen wir doch sinnvolle Entscheidungen für uns, ändern wir doch unsere eigenen bequemen Gewohnheiten, überdenken wir im Alltag doch lieber unser eigenes Konsumverhalten, statt Andersessende zu belehren, zu kritisieren, zu diffamieren. Üben wir uns doch in kulinarischer Toleranz und Weitsicht.

Weiterführendes zum Thema:

Heute gibt es Schichtsalat! Oder: auch Veganer fahren Auto! (hundertachtziggrad°-Blog)

Finger weg von meinem Essen! (punktkommatext_Blog)

“Frei von Sünde” von Evelyn Roll, Süddeutsche Zeitung vom 11.01.2014 / Ressort: SZ Wochenende (genial, leider nur kostenpflichtig via Genios.de)

  1. Wie schon Susa so bringst es auch du wieder mal treffend auf den Punkt: Toleranz ist das große Stichwort, aber auch das ‘mehr bei sich sein’, das ‘bei sich im Kleinen beginnen’.

  2. “Man kann doch nicht unkommentiert lassen, was die anderen alles falsch machen, wie soll ich mich denn da noch um mein eigenes Essen kümmern? Wer hat denn so viel Zeit?”

    Manchmal kommt es mir genau so vor, wenn mir jemand mit Tiefkühllasagne vor der Nase (aka mediterrane Diät) sagt, das der Laden wo ich mein Mittag eingekauft habe nicht Dingsbumsöko-zertifiziert sei.

    Ich nehme mich aber auch nicht raus, denn ich habe auch schon Wein gepredigt und Wasser getrunken – oder war das jetzt andersrum? Ich glaube man verliert sich wahnsinnig schnell in irgendwelchen halzbrecherischen Diskussionen um Ernährung, die nur noch den letzten Einwohnern von Absurdistan helfen. Sogar die vermeintlich affinen Menschen – wie Leute die im Internet was zu Ernährung schreiben.

    Ich glaube an das was du sagst: Jeder ist seines Essens Schmied. Losgehen, leckere Sachen einkaufen. Am besten so nah am Produzenten wie es geht. Manchmal geht es nicht aus den von dir genannten Gründen und ein paar dutzend anderen. “Mackte nix, näxte mal…”

    Aber ich glaube auch, dass es zwei Seiten der Bewegung braucht. Jemand (oder viele) müssen anfangen zu vereinfachen und dadurch Zugang zu einer größeren Menge an Leuten bekommen, die die wichtigen Themen, die ein Ernährungssystem wirklich steuern aufgreifen und weiter verbreiten. Die Bildung des einzelnen entscheidet dann über Konsequenzen.

    Die beiden Bewegungen zusammen können dann evtl. was verändern. Ansonsten gibt es weiter jede Woche Bolognese aus gelocktem Hack, anstatt nur einmal im Monat.

    1. Creezy, so ist es:-) Einen schönen Ausdruck für diese Wirren erfand auch Evelyn Roll in ihrem großartigen Artikel (dens leider nur in Bezahlversion gibt): Nutrismus!

      Paul, das stimm natürlich, neben dem engagierten Einzelnen (ich bin da glühender Anhänger der Einkaufswagen-Politik), brauchts schon auch weiterhin Aufklärung. Das können Blogger leisten, die Presse, die Medien, Gastronome, Köche, Genießer…

  3. «Die Ernährungspsychose hat auch bereits einen (von der Schulmedizin noch nicht anerkannten) Namen: Orthorexia Nervosa.»

    Wie interessant! Ganz oft trieb mich die Vermutung bei den intoleranten Schubladenernährern, hier wird über die eigene besondere Ernährungsform ein anderes psychisches Dilemma kompensiert. Und das möchte ich jetzt nicht auf einem Level mit den sogenannten Essstörungen sehen, denn die Leute, die damit geschlagen sind, gehen meiner Erfahrung nach mit der Ware Essen an sich vergleichsweise neutral um.

    Aber die anderen sprechen so viel über Ernährung, lesen, zitieren oder dozieren, dass man nur noch denken kannl, dozierst Du nur noch oder kochst Du auch mal?

  4. eh. tun statt sudern. das hat immer schon gestimmt und stimmt für mich beim essen, bei lebensmitteln, bei der landwirtschaft, der abstimmung mit dem einkaufswagen sowieso immer (aber das brauche ich dir ja nicht zu erzählen, wir haben ja nicht umsonst gemeinsam ein buch gemacht).

    deshalb auch, du erlaubst mir den verweis, die idee “tierfreitag”:
    http://www.esskultur.at/index.php/2014/01/31/der-tierfreitag/
    weil mehr leute mehr wissen und mehr zusammenbringen und mehr freude haben – und mehr bewirken können als selbsternannte moralapostel mit schlagseite. nämlich dann, wenn essen grundsätzlich und zuallererst einmal schmecken darf und nichts “können” muss.

  5. Du spricht mir aus der Seele! Jeder soll das essen, was ihm/ihr schmeckt, aber bitte auf die Qualität achten (so gut, wie es der Geldbeutel zuläßt).

  6. Weil sich der/die Autor/-in durch die Diskussion um vegane oder vegetarische Ernährung (im weiteren Text: die Diskussion) „genervt“ fühlt, ist sie noch lange nicht befriedigend abgeschlossen.
    Mit der Masche, Andersdenkende als psychisch krank zu diagnostizieren, macht es sich der/die Autor/-in meines Erachtens doch zu leicht. Medizinische Begriffe wie „Psychose“ und „Obsession“ synonym zu gebrauchen, offenbart die Kompetenz im Umgang mit diesen.
    Die wenigsten persönlichen Faktoren, die der/die Autor/-in aufführt, sind unveränderlich in Stein gemeißelt: Geschmack, Religionszugehörigkeit und Moral werden zwar durch die eigene Biographie geprägt, können aber kritisch reflektiert werden, und sind formbar. Eine (niedriges) Einkommen, Allergien (wie z.B. auf Nüsse oder Steinobst) und Unverträglichkeiten (z.B. Lactose, Fructose, Gluten) sind keine Argumente gegen eine vegetarische oder vegane Ernährung.
    Warum die Diskussion niemals zu einem Ergebnis kommt bzw. kommen wird, ist nicht ausreichend begründet. Welche Ergebnisse vorstellbar sind, und welche davon akzeptabel bzw. inakzeptabel erscheinen, ist nicht erläutert.
    Dass die Diskussion von suggeriert wichtigeren Themen ablenkt, ist eine nicht widerlegbare Behauptung, ein Totschlagargument. Jede Diskussion lenkt von anderen Diskussionen ab, und sollte demnach beendet werden.
    Eine regionale und nachhaltige Ernährung ist nicht utopisch, sondern heute praktikabel. Sie ist mit Einschränkungen verbunden, sie ist umständlich, und sie erfordert Kompromisse – in meinen Ohren klingt das alles andere als utopisch.
    Die einzige Mangelversorgung bei veganer Ernährung, die gegenwärtig Konsens der Forschung ist, betrifft Cobalamine (auch bekannt als Vitamin B12). Der Konsum von Surrogaten ist – unabhängig von der physiologisch Notwendigkeit – kein Phänomen, dass sich auf Vegetarier und Veganer beschränkt.

    1. Sehen Sie Mariano, genau dagegen habe ich angeschrieben, sie verteidigen in ihrem Kommentar die vegetarische und vegane Ernährung – das tut doch garnicht Not, in Ordnung, ich habe das garnicht angegriffen! Und einen befriedigenden Abschluss der Diskussionen, kann und wird es nicht geben, dazu sind Menschen und Ansichten zu vielschichtig. Und hätten Sie sich die Mühe gemacht, sich ein wenig eingehender mit meinem Blog und meiner Person zu beschäftigen, wäre Ihnen, neben meinem Namen und meinem Geschlecht, evetuell auch aufgefallen, dass ich mitnicht nicht an “regional” und “nachhaltig” glaube, sondern mich im Blog und in meinem Beruf als Kochbuchautor (u.a. “Deutschland Vegetarisch”, “Go Veggie!” und Tim Mälzers “Greenbox” als Autor) dafür einsetze. Werte die mir wichtig sind, die bedroht sind, weil denkende Kulinariker wie Sie und ich lieber über den Sinn oder Unsinn von fleischloser Ernährung und Mangel disuktieren, statt uns mal über das Freihandelskommen zu verständigungen, eine Haltung zu entwickeln, die über persönliche Vorlieben hinaus geht. Sie haben recht: jede Diskussion läuft zu Kosten einer Diskussion und wahrscheinlich muss auch da jeder selbst Prioritäten setzen, ich habe mir erlaubt in meinem Blog, darauf hinzuweisen, dass die ermüdendende Diffamierung und Missionierung Andersessende ganz evetuell auf Kosten anderer, größerer Entwicklungen geht, die heimlich still und leise hinter unserem Rücken und über unsere Köpfe hinweg stattfinden. Nicht die Essensentscheidungen unserer Nachbarn bedroht unsere Nahrung, sondern die Entwicklungen in Politik und Industrie.

  7. Herzlichen Dank für diesen tollen Text! Ich sehe das genauso und würde mich freuen über ein Umdenken und Umlenken der bisherigen Diskussionen. Am besten fängt man sofort damit an! Viele Grüße, Theresa

  8. […] Sind wir nicht alle Andersesser? Kleines Plädoyer für mehr kulinarische Weitsicht “Herr Paulsen” (Mitautor von ‘Deutschland vegetarisch’) ruft zur Mäßigung und Toleranz auf, denn Essen sei nun mal etwas sehr Persönliches, bei dem sich niemand gerne reinreden lassen. Und er hat einen weiten Blick für politische Entwicklungen, der ihn mir sympathisch macht: […]

  9. Viele wichtige Punkte wurden hier schon genannt: Vereinfachen, vorleben, tun. Anstatt sich in ewigen Diskussionen zu verlieren.
    Ich nehme mich da nicht aus, oft überkommt es mich.

    Aber wir bewegen uns damit in so einer engen Manege, abgegrenzt von dem, was ausserhalb passiert, nur die Diskussion sehend, den eigenen Standpunkt brüllend verteidigend gegen die Mitlöwen im Ernährungszirkus.

    Anstatt zu bündeln, was uns einigt.

  10. Essen eine Privatsache? Dann bite mal hier lesen:

    http://www.ende-der-maerchenstunde.de/index.php?/archives/172-Der-Deutsche,-das-Fleisch-und-der-Veggie-Day.html

    Auszug: Denn eine Lebens- und Ernährungsweise, die anderen (und nicht nur Tieren) Leben und Lebensgrundlage kostet, ist genau keine Privatangelegenheit und es gibt auch kein Recht darauf. Der global rasant steigende Fleischverzehr hat so derart katastrophale Folgen für Mensch, Welt und die Tiere sowieso (warum, das hab ich hier und hier bereits aufgeschrieben, zum Thema Sojanbau in Südamerika bitte hier (Link) und hier (Link)und hier (Link) nachlesen, zum Thema Tierethik bitte hier (Link) und hier (Link) und hier (Link)).

    Und hier kommts noch besser:

    http://www.ende-der-maerchenstunde.de/index.php?/archives/174-Herrje,-schon-wieder-boese,-boese-Veganer!.html

  11. Danke gerdos, für die Links die sehr gut unterstreichen, was ich meine: intellektuelle Grabenkämpfe, Thesen und Gegenthesen, Aufregung, Verurteilung – aufgehängt ausschließlich an der Fleisch/nicht Fleisch-Diskussion (ich weiß dass Frau Hartmanns Buch thematisch wesentlich breiter aufgestellt ist, die Links führen aber ebendort hin). Ich denke nicht, dass sich damit eine breite Basis der Gesellschaft erreichen, und für die ganz großen Themen sensibilisieren lässt. Die (einseitige) Diskussion verbleibt bei den “Lohas” und “Lifestyle-Ökos”, jene Gruppen also über die (und für die) Frau Hartmann schreibt.

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