Unterwegs: Samstagnachtfieber (Take the long way home), La Vida Festival 2014, Catalunya, Spain

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Am Freitagabend, beim Bilderzählen am Foto-Set die Überraschung, wir waren sehr fleißig und können uns am Wochenende eine Pause gönnen. Doch die gemütliche Gastarbeiter-Casita und das Meer vor der Tür reichen dem feinen Herrn nicht, dem feinen Herrn ist nach Amüsemang und Abendunterhaltung. Im Internet finde ich ein Musikfestival, direkt um die Ecke. Das Time Out Magazin warnt, die Anfahrt von Barcelona mit Bus und Bahn könne „mehrere Stunden“ dauern. Wundert mich ein bißchen, da fährt ein Zug durch, das dürfte in einer guten Stunde zu machen sein und von meinem Wohnort an der Küste sind es gerade mal 25 Minuten. Schätze ich. Doch Time out schreibt weiter, es lohne jeder Weg für das Vida Festival. Ich also los.

In Vilanova i la Geltrú nehme ich den Bus zum Festivalgelände, wir werden an einem Kreisverkehr, weiter ab vom Stadtzentrum abgesetzt und schon auf dem Fußweg zum Festival merke ich: das könnte was werden.

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Durch Weinberge und eine lange Zypressen-Allee führt der Weg zu einem feudalen Gutshof, im Schatten der alten Gemäuer liegt der Eingang zum Vida-Festival, ich erstehe ein Tagesticket, gehe rein und staune.

Die beiden Hauptbühne stehen in der Frühabendsonne in einem weiten Park vor dem Anwesen, die übrigen drei kleinen Bühnen und der liebevoll gestaltete Foodmarkt finden sich allesamt in einem weitläufigen Hain zwischen Olivenbäumen und hohen Kiefern, grüne Kanarienvögel fliegen durch den kühlen Wald und lamentieren lautstark im Geäst.

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Ein Paradies. Am Asia-Stand bestelle ich mir eine Portion Ramen-Nudeln, so als Grundlage, und noch ehe ich „Achduliebegüte“ sagen kann, hat der Koch schon lächelnd eine Handvoll Würstchenscheiben mit in den Wok geschmissen. Es sind wattig-weiche Wiener Würstchen-artige Scheiben unbekannten Ursprungs und ich lerne die Grenzen der Crossover Küche kennen. Am groben Holztisch unter einem Olivenbaum esse ich die Nudeln, die mit Curry gewürzt sind und dadurch schmeckt das ganze wie eine formidable misslungene Currywurst mit Nudeln. Macht nix, schönes kaltes Bier vom Sponsor dazu und jetzt aber mal Musik.

Erwähnte ich, dass ich vom Line up ganz genau zwei Acts, naja kenne, wäre übertrieben? Das ist aber auch die Philosophie des Festivals, durfte ich lesen, die buchen einfach mal so quer durch den musikalischen Garten und da müssen die Besucher dann durch. Und trotz der vielen Bühnen, findet immer nur ein Konzert zur Zeit statt. Wer Lust hat, kann so tatsächlich jede Band hören und gegebenenfalls kennen lernen. Find ich spitze.

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Jetzt lerne ich die charmanten Copa Lotus kennen, die im Pinienwald prima rocken, bißchen Funk, bißchen Folk und Country, bißchen Rock – das Publikum liebt die Jungs aus Vilanova i la Geltrú.

Überhaupt Publikum, glatte Eins. Extrem viel Jugend, hübsche Spanierinnen mit riesigen Brillengestellen, Tatoos und praktischen Hochsteckfrisuren, hübsche Spanier mit kurzen Haaren und langen, dichten Bärten, sie sehen alle ein bißchen Berlin aus.

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Zwischen den Bäumen legt jetzt die Inkarnation von Joan Baez los, Sílvia Pérez Cruz hat eine unfassbare Stimme und ein glasklares Timbre, Viva a la Vida, hieß das spanische Album von Joan Baez, das meine Mutter zuhause immer hörte, daran erinnert mich Sílvia Pérez Cruz, der die Menschen hier zu Füßen liegen. Das ist alles ganz Minimal, nur Gesang und Raül Fernandez Miró am der Gitarre, aber das hat eine Kraft und Zartheit und Intensität, ganz still ist es im Wäldchen, selbst die Kanarienvögel geben Ruhe und Frau Cruz singt unendlich traurige, klagende Lieder und ich verstünde gerne, von was sie singt. Viele ZuhörerInnnen haben Tränen in den Augen, sind deutlich ergriffen. Die Abendsonne flimmert durch die Bäumen und als der Applaus aufbrandet, bekomme ich direkt Gänsehaut – wenn zweitausend Menschen in einem Pinienwald klatschen, klingt das anders als in einer Halle, das kann ich Ihnen aber sagen. Und der Applaus will nicht mehr aufhören.

Beim Portugiesen hole ich mir einen Kaffe und eine kleine Süßigkeit, die Zeit fliegt, gleich kommen auf der großen Hauptbühne Yo La Tengo.

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Hab ich schon mal von gehört und gelesen hatte ich: Yo La Tengo spielten Noise Rock. Noise Rock ist für mich ähnlich verführerisch wie Freejazz oder eine Salmonellenvergiftung. Und dann legen Yo La Tengo auch schon los, ein überwältigender kakophonischer Lärm, eine Wand aus andauerndem, ähm, ja Lärm. Sorgenvoll Blicke ich mich nach den Kindern um (erwähnte ich, dass die Spanier Kinder und Kleinstkinder jeden Alters einfach mitgebracht haben, man hat ja noch ein Leben herrjeh, find ich prima) und entwickle einen Notfallplan, ich muss hier weg.

Und dann kommt der zweite Song und, der dritte und so weiter und alles klingt so irre gut und frisch nach Velvet Underground, nach den von mir heiß geliebten The Jesus and Mary Chain, erinnert an Sonic Youth und die Pixies, ich staune. Zart gehauchter Jazz plötzlich zwischen dunklen Bassläufen und rauhen Riffs, konzentrierte Geschwindigkeits-Drums, hypnotisch und hochmusikalisch – Yo La Tengo, ich muss dringend nachsitzen, Riesen-Entdeckung erstmal und das beste Konzert des Abends, jetzt schon.

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Der Burger am Stand von Weber Grill ist eine Katastrophe, der Grillhersteller präsentiert sich scheinbar auch auf Musikfestivals (oder hat leichtfertig High-End Grills, gelabelte Schirme und Standausstattung “gesponsort”). Das mit den Festivals macht Sinn, der Burger nicht. Burger sind hier in Spanien kein Trend wie in Deutschland derzeit, der Hamburguesa ist hier als Grundumsatz-Essen auf jeder kleineren und größeren Speisekarte zu finden. Innovation bedeutet am Weber-Stand ein Stückchen Blauschimmelkäse, das mit kalten Schmorzwiebeln und einem gefühlten Kilo Rauke im lauwarmen Burger-Brötchen gereicht wird. Der Formfleisch-Pattie ist knorpelig. Und es gibt einen großen Unterschied zwischen Curry-Ramen-Nudeln mit Würstchenscheiben “Wiener Art” und diesem Burger – der Unterschied heißt: Lieblosigkeit. Kann ich nicht ab. Schnell wieder Musike!

Ich verstehe an diesem Abend nicht alles und teile nicht jede Begeisterung des superfreundlichen Publikums, auf der Elektrostage bringen Hidrogenesse, wahrscheinlich unwissend, alles Schrecklichkeiten der Neuen Deutschen Welle zurück, schlimme Synthie-Sounds, alberne Kostüme, einer der Herren trägt ein Dior-Kleid-Zitat als Anzug, der Sänger trägt glitzernde, kurze Spandex-Hosen, ein Schiedsrichter-Hemd mit passender Kappe, das ist optisch irgendwo zwischen Cheap Trick, The Sparks und Erste Allgemeiner Verunsicherung angelegt. Nur eben en español und ich bin unsicher ob das Parodie, Kunst, Zitat oder einfach nur anstrengend ist. Ich verstehs auch einfach nicht und geh mal mein Handy aufladen und Bier holen.

Und dann kommt Lana del Rey. Schwebt herein. Barfuß, im grünen Minikleid. Es hebt an ein Kreischen aus tausend Teenagerkehlen, die älteren Herren schlucken trocken und fotografieren hektisch die Großbildleinwand. Überwiegend sehr junge Mädchen schreien sich die Seele aus dem Leib und ich recken den Hals, ob nicht irgendwo noch eine Boy-Band aufläuft, aber nein, das Kreischen gilt tatsächlich und mit anhaltender Inbrunst: Frau del Rey. Ich lerne, dass sie, zumindest in Spanien, scheinbar ein Star für Teenies ist.

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Ich weiß eigentlich nicht viel über Lana del Rey, ich kenne ihren Knie-erweichenden Schlafzimmerblick und ich glaube dass der Song Videogames ein Song für die Ewigkeit ist, moderner Americana, im Geiste von David Lynch. Ich liebe den Song. Der Rest, erinnere ich mich, war doch erstaunlich poppig, ein Album habe ich jedenfalls nie gekauft und meine Vermutung bestätigt sich während des Konzertes, das ist Pop und ein bißchen langweilig und was hätte das alles werden können. Große Stimme.

Vor einiger Zeit kursierte ein Video im Netz, das einen sensationell vergeigten Auftritt der Sängerin zeigte und die Frage aufwarf, ob sie eigentlich überhaupt singen könne. Da darf ich beruhigen, sie kann. Und wie! Wenn sie nicht grade raucht. Lana del Rey raucht eigentlich ständig, die Fluppe legt sie immer im Mikrohalter ab und zieht hektisch an der Zigarette, wenn sie grad mal nicht singen muss. 98 % aller RaucherInnen sehen einfach bekloppt aus beim Rauchen und Lana del Rey gehört leider nicht zu den 2 %. Und mit Kippe performen, das konnte eh nur die Dietrich.

Kurz sehe ich mit auf der Elektro-Stage noch Austra an, merke aber, ich bin rechtschaffend müde. Ich gehe zum Kreisverkehr. Da kommt ja dann der Bus zum Bahnhof und von da gibst einen Nachtbus. Soweit die Theorie. Was Time Out verschwiegen hatte: den Rückweg. Mal so vorweg: als ich das Festivalgelände verlasse, ist es 00.45 und ich habe im Prinzip so um die 25 Kilometer Küste hinter mich zu bringen.

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Am Kreisverkehr werden wir von sechs Polizeibeamten “in Gewahrsam” genommen. Die Herren regeln dort den Verkehr, der um diese Zeit mit „vereinzeltes Verkehrsaufkommen“ trefflich umrissen ist. Mit Absperrgittern schiebt man uns Wartende sehr beherzt zurück in die Strasse, die zum Festival führt. Jetzt wird Verkehr geregelt. Einer der Beamten hat eine Trillerpfeife. Nährt sich zufällig ein einsamer Wagen, ertönt ein ohrenbetäubender Pfiff, zwei weitere Kollegen bringen den erschrockenen Fahrer mit rot leuchtenden Wink-Kegeln erst zum Stehen, schalten dann die Wink-Kegel auf weißes Licht und fuchteln wie von Sinnen in Richtung des natürlich gegebenen Fahrverlaufes des Kreisverkehrs. Der Fahrer umfährt daraufhin ängstlich den Kreisverkehr. Die Beamten tragen steinerne Minen, kauen imaginäre Kaugummis, halten ständig die Walkie Talkies ans Ohr, auch wenn offensichtlich niemand mit ihnen spricht. Einer spricht aus versehen kurz in seine Trillerpfeiffe.

Dann bricht Panik aus unter den Beamten: der Bus kommt! Und er kommt direkt auf unserer Höhe zu stehen. Das verdanken wir den Polizisten, die den Bus einweisen, als handele es sich dabei um eine eben gelandete Boeing. Rote Wink-Kegel leuchten. Der Bus hält. Dem Busfahrer wird bedeutet die Tür zu öffnen, dann wird der Mann knapp angeherrscht. Die Tür des Buses schließt sich daraufhin wieder, der Fahrer fährt exakt 12 Zentimeter weiter vor. Rote Wink-Kegel, der Bus stoppt, knappes Nicken der Ordnungsmacht. Geht doch. Türen auf.

Der Preis für die Busfahrt zum Bahnhof (1 Euro) ist leider nicht im Festivalpreis enthalten. Der Busfahrer lässt nun jeden Fahrgast einzeln zusteigen, kassiert, gibt Rückgeld raus, druckt den Beleg. Das dauert. Dann ist der Bus voll und fährt ab. Weiße Wink-Kegel. Wir stehen noch am Kreisverkehr.

Da! Endlich Verstärkung! 4 weitere Ordnungskräfte unterstützen die Kollegen vor Ort. Denn jetzt ist ein neues Problem aufgetaucht. Es ist 2:25 Uhr und es gibt freundliche Taxifahrer die gerne Gäste aufnehmen würden. Und es gibt unter uns Festival-Gäste, die mittlerweile jeden Preis für ein Taxi zahlen würden. Die Polizei umringt die anfahrenden Taxis, herrschen die Fahrer kurz an, dann fahren die Taxis leer weiter und hinweg in die Nacht. Das seltsame: keiner beschwert sich. Um 2:45 bin auch ich endlich am Bahnhof, zwei Stunden nachdem ich das Festival-Gelände verlassen hatte. Der letzte Nachtbus kommt um 2:49 Uhr. Er bietet Platz für 60 Personen.

Die nächsten Stunden verbringe ich gemeinsam mit vielen anderen müden Menschen vor dem geschlossenen Bahnhof, die Taxifahrer sind zu Recht beleidigt und im Bett, wir verstehen das schon, wir warten auf den ersten Zug nach Barcelona, der hält an jeder Milchkanne, sogar in meinem Dorf und der kommt schon um 4:29 Uhr.

Um 5:10 Uhr betrete ich meine Gastarbeiter-Casita, ich habe für den Rückweg und die ca. 25 Kilometer solange gebraucht, wie mit dem Auto von Köln nach Hamburg. Nicht das Ticket, der Rückweg war der eigentliche Preis den ich für den schönen Sommernachtstraum zu bezahlen hatte. Rückblickend ist es aber genau, wie das Time Out Magazin schon schrieb: die Reise wars definitiv wert.

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